Umsetzung der Osteoporose-Leitlinien in Orthopädie und Unfallchirurgie – Ergebnisse eines Experten-Workshop der DGOU

Trotz der Verfügbarkeit evidenzbasierter Leitlinien und adäquater Therapiekonzepte ist die Versorgung von Patienten mit Osteoporose in Deutschland verbesserungsbedürftig. Im Rahmen eines am 4.5.2009 in Dresden durchgeführten Expertenworkshop der DGOU unter Leitung von H. Zwipp und K.P. Günther sollte deshalb ein Maßnahmenkatalog zur optimierten Umsetzung dieser Konzepte in Orthopädie und Unfallchirurgie erarbeitet werden.

Das Krankheitsbild der Osteoporose ist für betroffene Patienten, Therapeuten unterschiedlichster Disziplinen und schließlich Kostenträger ein enormes Problem.  Aufgrund der demografischen Veränderungen ist über die nächsten Jahrzehnte in den Industriestaaten ein dramatischer Anstieg Osteoporose-assozierter Frakturen und der daraus resultierenden gesundheitlichen Probleme zu erwarten. Trotz der Verfügbarkeit zuverlässiger Diagnoseverfahren und multimodaler Präventions- sowie Behandlungskonzepte, die auf evidenzbasierte Leitlinien zurückgehen, ist die Versorgungssituation noch unbefriedigend. Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) hat deshalb im Mai 2009 einen Experten-Workshop durchgeführt, der unter Beteiligung von Ärzten aus unterschiedlichen Fachgebieten, Wissenschaftlern, Patientenvertretern und Kostenträgern Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungssituation im muskuloskeletalen Bereich erarbeitet hat. Im Folgenden sollen die identifizierten Problemfelder und mögliche Lösungsansätze für das gemeinsame Fach Orthopädie und Unfallchirurgie zusammengefasst werden. Ausführliche Daten und weiterführende Literatur finden sich in einem derzeit publizierten Artikel zum Workshop in der „Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie“.

 

Klinische und gesundheitsökonomische Situation

Aktuell ist ein Viertel aller Deutschen über dem 50. Lebensjahr von einer Osteoporose betroffen und bei beiden Geschlechtern nimmt die Inzidenz mit steigendem Lebensalter zu. Von 7,8 Mio. Osteoporosepatienten im Jahr 2003 in Deutschland wiesen insgesamt 333.322 (4,3%) osteoporosebedingte Frakturen auf. Einen guten Überblick über Frakturmuster, soziodemografische Charakteristika und Versorgungsformen (stationäre konservative bzw. operative Therapie) verschafft die zwischen 2002 und 2004 durchgeführte Erhebung der AG Alterstraumatologie der DGU in Kooperation mit dem Verband der Ersatzkassen. Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes lassen erwarten, dass sich bis zum Jahr 2050 die Inzidenz von Schenkelhalsfrakturen mehr als verdoppeln wird. Diese Daten sind weitgehend identisch mit den Prognosen in anderen Industriestaaten. Inzidenz- und Prävalenzberechnungen bei der Osteoporose basieren jedoch meist nicht auf direkten Erhebungen in der Bevölkerung, sondern auf Diagnosestatistiken von Versorgungseinrichtungen bzw. Kostenträgern. Diese sind jedoch aus unterschiedlichen Gründen unvollständig (u.a. Unter- bzw. Fehlcodierung, Unsicherheit der Zuordnung von Sarkopenie und Frailty-Syndrom).
Die betroffenen Patienten leiden unter teilweise dramatischen Auswirkungen der Osteoporose bzw.  dadurch verursachter Frakturen. 20% der Patienten mit schweren hüftnahen Frakturen und Wirbelkörperfrakturen versterben bei relevanter Comorbidität im ersten Jahr nach Frakturbehandlung, 50 % weisen persistierende und relevante Einschränkungen der Lebensqualität auf.

Krankheitskosten

Es existieren unterschiedliche Angaben zu den Krankheitskosten, die durch eine Osteoporose in Deutschland verursacht werden. Nach den Angaben der BoneEVA-Studie wurden im Jahr 2003 durch ambulante und stationäre sowie rehabilitative und pflegerische Behandlungsmaßnahmen aufgrund einer Osteoporose insgesamt Kosten von 5,4 Mrd. € verursacht. Angaben aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes weichen jedoch teilweise erheblich von dieser Größenordnung ab und kalkulieren Krankheitskosten in Höhe von 1,7 Mrd. € im Jahr 2006. Allen Berechnungen sind nur direkte Kosten zugrunde gelegt. Eine eindeutige Ursache für die Angabe unterschiedlicher Größenordnungen ist schwer identifizierbar.

 

Stand der Leitlinien-Umsetzung

Der „Dachverband Deutschsprachiger wissenschaftlicher Gesellschaften für Osteologie (DVO)“ hat S3-Leitlinien entwickelt, die sich nach Publikation im Jahr 2003 derzeit in einer neuerlichen Überarbeitung befinden. Ein Kursprogramm zum zertifizierten „Osteologen DVO“ ist etabliert, und der Dachverband vergibt Qualitätssiegel für zertifizierte „Osteologische Schwerpunktzentren DVO“. Die Leitlinien zur Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose sind sowohl in einer Langfassung als auch in einer Kurzfassung publiziert.

Trotz der hohen methodischen Qualität und eines auch offensichtlich weiten Verbreitungsgrades der Osteoporose-Leitlinien  erhalten derzeit in Deutschland jedoch nur etwa 10% bis 20% eine leitliniengerechte medikamentöse Osteoporosetherapie. Besonders auffällig ist dabei eine Abnahme des Anteils behandelter Patienten mit steigendem Lebensalter. Bislang gibt es in Deutschland keine detaillierte Untersuchung, die den Gründen für die Diskrepanz zwischen verfügbarer Evidenz und Umsetzung in die Versorgungsrealität nachgeht. Vermutlich spielen mehrere Faktoren (fehlende Leitlinienbindung, Regressangst, unzureichende Compliance) dabei eine Rolle.

 

Integrierte Versorgungsmodelle

Bisher gesammelte Erfahrungen mit regionalen Initiativen der Vernetzung unterschiedlicher Versorgungspartner bzw. integrierter Versorgung (z.B. „OSTEOproaktiv Sachsen“) zeigen übereinstimmend, dass sich damit die Qualität der Behandlung von Osteoporosepatienten verbessern lässt. Neben einer Einbindung von Kostenträgern und stationären Einrichtungen ist die Beteiligung von Hausärzten als oft ersten Ansprechpartnern und Fachärzten unterschiedlicher Gebiete (mit entsprechender osteologischer Erfahrung) zwingend erforderlich. Zusammen mit der orthopädisch-unfallchirurgischen Behandlung osteoporosebedingter Frakturen muss eine leitliniengerechte Diagnostik sowie ein standardisiertes geriatrisches Assessment erfolgen. Von besonderer Bedeutung ist auch die Durchführung eines Sturzrisiko-Assessment. Die zur Osteoporosediagnostik notwendigen apparativen Untersuchungen (DXA) und die Bestimmung entsprechender Laborwerte bzw. Knochenmarker muß standardisiert sein. Die Festlegung einer adäquaten Therapie bedarf einer interdisziplinären Abstimmung unter Einbindung zertifizierter Osteologen.
In Anbetracht der komplexen Problematik osteoporotischer Frakturen ist eine Behandlung betroffener Patienten – wie modellhaft in Innsbruck bereits umgesetzt - in „Zentren für Alterstraumatologie“ unter entsprechender interdisziplinärer Versorgung mit unmittelbarem Kontakt zu den benachbarten Disziplinen (Innere Medizin, Gynäkologie, Geriatrie etc.) und Verfügbarkeit von unterstützenden Einrichtungen (Physiotherapie, Ergotherapie, Sozialdienst etc.) wünschenswert.

 

Gegenwärtige und künftige Forschungsaktivitäten

Trotz erheblicher Fortschritte in der Grundlagenforschung, die unser Verständnis von zellulären Funktionsmechanismen auf Ebene der Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten entscheidend verbessert hat, sind die für eine Osteoporose relevanten Zusammenhänge zwischen muskulärem Funktionszustand und zellulärer Funktion im Knochen noch unzureichend untersucht. Eine Umsetzung der neuesten experimentellen Ergebnisse auf Grundlagenniveau in die klinische Versorgung bedarf zudem noch einer Prüfung ausgewählter Hypothesen an adäquaten Patientenkollektiven.
Im Bereich der Therapiebewertung ist zwar eine große Zahl methodisch hochwertiger Single- und Multicenter-Studien verfügbar, doch unterscheiden sich diese teilweise substanziell in Anzahl und Alter eingeschlossener Patienten, dem Anteil an männlichen Studienteilnehmern und weiteren Charakteristika (z. B. medikamentöse Vorbehandlung). Auch sind die publizierten Studien oft noch recht heterogen hinsichtlich der ausgewählten Zielvariablen (z. B. alleiniges Auftreten von Schenkelhalsfrakturen, Wirbelsäulenfrakturen, kombinierte Frakturen, Knochenmineraldichte). Unklarheit besteht auch in den Empfehlungen zur notwendigen Dauer einer medikamentösen Therapie. Während in den DVO-Leitlinien ein Zeitraum von fünf Jahren gefordert wird, propagieren andere Autoren eine Beendigung medikamentöser Therapie nach zwei Jahren, um mögliche Nebenwirkungen zu vermeiden. Insbesondere zur Relevanz der Nebenwirkungen einer medikamentösen Osteoporosetherapie und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine adäquate Befristung liegen zu wenig valide Daten vor.

Aus Sicht der Expertengruppe sollte die künftige experimentelle Forschungsaktivität in Orthopädie und Unfallchirurgie auf das muskuloskeletale Kerngebiet der Frakturheilung konzentriert werden (zeitlicher Ablauf der Frakturheilung bei Osteoporose, Veränderungen am Knochen-Implantat-Interface, Einfluss von Medikamenten auf Frakturheilung).
In der klinischen Forschung sollten die Anstrengungen auf Implantatforschung, internationale Vergleiche von Komplikationsraten bei spezifischen Versorgungen, den Einfluß von medikamentöser Therapie auf Frakturheilung und gesundheitsökonomische Themen konzentriert werden. Auch ist eine Prüfung der Effektivität präventiver propriozepiver Übungsprogramme zur Sturzvermeidung notwendig. 

Sowohl experimentelle als auch klinische Forschung im Bereich der Osteoporose muss an entsprechend ausgestatteten muskuloskeletalen Zentren erfolgen, um erfolgreich zu sein. Neben Nachwuchsförderung ist die Einrichtung adäquat ausgestatteter Forschungsprofessuren und eine vermehrte Vernetzung orthopädisch-unfallchirurgischer Forschungsgruppen mit Aktivitäten anderer Disziplinen notwendig.

 

Handlungsempfehlungen

Die verfügbare Datenlage zu Inzidenz bzw. Prävalenz der Osteoporose in Deutschland und der sich daraus ergebenden gesundheitsökonomischen Konsequenzen ist noch unzureichend. Weiterhin besteht trotz hoher methodischer Qualität verfügbarer Leitlinien ein Bedarf an verbesserter Umsetzung in Diagnostik und Therapie, vor allem in operativen Fächern. Häufig scheitert eine effiziente Anwendung der Leitlinie an den Schnittstellen von operativer und konservativer sowie stationärer und ambulanter Medizin. Ein ungestörter Informationsfluss und eine reibungslose Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren sind wichtige Garanten einer guten Umsetzung. Auch Forschungsaktivitäten im muskuloskeletalen Bereich mit definiert translationalen Ansatz  sowie qualitative hochwertige Versorgungsstudien  kommen in Deutschland zu kurz.

Die am Expertenworkshop der DGOU beteiligten Personen sehen deshalb für Orthopädie und Unfallchirurgie folgende Ansätze zur Optimierung der Versorgung von Osteoporosepatienten:

 

  • Verbesserte Identifikation von Patienten mit Osteoporose und erhöhtem Sturzrisiko  
    - Leitliniengerechter Einsatz diagnostischer Verfahren (Frakturvorhersagemodelle)
    - Prüfung des Sturzrisikos bei amb./stat. betreuten Patienten >50. Lebensjahr
  • adäquate Dokumentation der Osteoporose bei stationärer Behandlung (v.a. adäquate Codierung ICD-M80 bei nachgewiesener Osteoporose im Rahmen einer Wirbelsäulen- oder Extremitätenfraktur)
  • Optimierung der Therapiemaßnahmen bei Osteoporosepatienten durch
    - Beachtung einer abklärungsbedürftigen „Frailty“ (Sturzrisiko, Sarkopenie)
    - Etablierung vernetzter Aktivitäten (IV-Modelle, Zentren für Alterstraumatologie etc.)
    - interdisziplinäre Behandlungsführung und Integration zertifizierter Osteologen
    - verbesserte Kommunikation der evidenzbasierten Leitlinien
    - Intensivierung von Osteologie-Inhalten in orthop.-unfallchir. Weiterbildung
  • Unterstützung und Weiterentwicklung von Forschungsaktivitäten mit
    - Fokussierung der Osteoporose-Forschung im muskuloskeletalen Bereich
    - Etablierung einer verbesserten Datenlage zur gesundheitsökonomischen Relevanz

 

Teilnehmer:

A. Defer (Praxis für Allgemeinmedizin, Dresden)
K. Dreinhöfer (Medical Park Humboldtmühle, Berlin)
G.N. Duda (Julius Wolff Institute & Center for Musculosceletal Surgery, Charite Berlin)
J. Goldhahn (Schulthess Klinik, Zürich)
K.P. Günther (Orthopädische Universitätsklinik Dresden)
L.C. Hofbauer (Medizinische Universitätsklinik Dresden)
F. Jacob (Osteolog. Zentrum für Muskuloskelettale Forschung, Universität Würzburg)
A. Kurth (Orthopädische Klinik, Universitätsmedizin Mainz)
I. Linde (Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose e.V., Düsseldorf)
M. Raschke (Klinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Münster)
J.M. Rueger (Klinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf)
R. Steinbronn (AOK Sachsen-Thüringen)
C. Stroszczynski (Institut für Radiologie, Universitätsklinikum Dresden)
L. Unger (Medizinische Klinik, Städtisches Krankenhaus Friedrichstadt, Dresden)
H. Zwipp (Klinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Dresden)

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